81 Prozent aller Deutschen ab 14 Jahren nutzen ein Smartphone: sagenhafte 57 Millionen Menschen. (Quelle: statista) Im Jahr 2012 waren es „nur“ 36 Prozent, in ein paar Jahren werden es vielleicht 95 Prozent sein. Jeden Tag berühren wir unzählige Male die glatte Oberfläche des Touchscreens. Es ist doch erstaunlich, dass, rein äußerlich betrachtet, so wenig passiert, dass wir mit dem Zeigefinger scrollen, swipen und klicken — aber innerlich eine ganze Menge geschieht. Wir nehmen wichtige Nachrichten und flüchtige News zur Kenntnis, lassen uns von App-Spielen mit Vergnügen die Zeit stehlen, chatten mit Freunden und der Familie in WhatsApp-Gruppen, klicken uns von einem Wikipedia- Artikel zum nächsten, fotografieren automatisch jeden schönen Sonnenuntergang und haben in Rekordzeit gelernt, uns und unserem Leben in den sozialen Medien wie Facebook und Instagram eine mehr oder minder präsentable Form zu geben. Das Smartphone prägt unseren Alltag: je jünger wir sind, desto stärker. Wenn wir in der U-Bahn den Kopf heben, sehen wir andere Menschen, die auf Displays schauen. Die meiste Zeit am Smartphone verbringen die Deutschen übrigens auf Tinder und Netflix. Flirten und Streamen sind beliebter denn je. Was kommt bei all dem zu kurz? Manche würden sagen: das echte Leben. Will man es nicht ganz so wertend ausdrücken, lässt sich sachlich festhalten: unser haptischer Sinn. Wozu haben wir Menschen fünf (oder sechs — beim Gleichgewichtssinn ist sich die Wissenschaft uneins) Sinne, können riechend, schmeckend, sehend, hörend und fühlend unsere Umwelt wahrnehmen, wenn wir im digitalen Zeitalter vor allem gläserne Benutzeroberflächen berühren und angucken? Beschränkt uns das glatte Smartphone in „sinnlicher Hinsicht“ nicht sogar? Trotz der unzweifelhaft nützlichen und faszinierenden Möglichkeiten des multifunktionalen Alltagswerkzeugs — erleben wir weniger?
Angucken reicht nicht
Der deutsche Philosoph Byung-Chul Han würde das vermutlich bejahen. In seinem vielbeachteten Sachbuch Die Errettung des Schönen von 2014 schreibt er: „Das Glatte ist die Signatur der Gegenwart. Es verbindet Skulpturen von Jeff Koons, iPhone und Brazilian Waxing miteinander.“ Han erkennt im Glatten — abseits seiner ästhetischen Wirkung — einen allgemeinen gesellschaftlichen Imperativ: nicht verletzt zu werden. Für den Philosophen ist „der glatte Touchscreen ein Ort der Entmystifizierung und des totalen Konsums. Er bringt hervor, was einem gefällt.“ Dass uns das Glatte gefallen will, bestätigt ein Blick auf Werbebroschüren und Hochglanzmagazine. Eine aufrüttelnde Reportage über Kriegsverbrechen oder soziales Elend auf glänzendes Papier zu drucken, würde geschmacklos wirken. Was echt ist, setzt uns, inhaltlich wie haptisch, Widerstand entgegen. Dass Berühren, Tasten, Fühlen nicht nur zentrale Handlungen für die Wahrnehmung der Welt sind, sondern auch wichtige Faktoren für unser Wohlbefinden, weiß jeder: Im Streichelzoo findet die Auseinandersetzung mit dem fremden Lebewesen über die Berührung statt. Wir berühren, um zu „be-greifen“. „Dazu haben wir die Dinger ja!“, sagte der bekannte Typograf Erik Spiekermann in Cortissimo 9 über die Hände. Und die junge Kommunikationsdesignerin Chiara Kleinke, die für ihre Abschlussarbeit eine haptische Erlebnisroute mit Touchpoints entlang der Elbe in Hamburg entwickelt hat, sieht im bewussten Gebrauch der Hände sogar „eine Brücke, um zurück in den Moment zu finden.“ (S. 13) Dazu müssen wir die Hände allerdings zu mehr benutzen als zum Scrollen, Swipen und Klicken. Die spürbaren Qualitäten unserer Umwelt müssen schließlich genau das: ge- und erspürt werden. Angucken reicht nicht.
Print berührt uns
Printprodukte machen es uns in dieser Hinsicht besonders einfach. Als greifbare Medien sprechen sie alle unsere Sinne an: Sie haben — ganz unabhängig von ihrem kulturellen und symbolischen Wert — einen eigenen Geruch, einen eigenen Sound (vgl. die „Geschichte des Papiergelds“ auf S. 25), sogar einen eigenen Geschmack — und vor allem taktil erfahrbare Eigenschaften wie Gewicht, Textur und Elastizität. Diese Eigenschaften spielen eine tragende Rolle bei der Vermittlung der Botschaften, mit denen das Papier bedruckt wurde. Gute Designer denken diese bei der Konzeption von Druckmedien mit, und gute Druckereien bieten ihren Kunden Möglichkeiten, mit diesen Eigenschaften zum Nutzen der Produktbotschaft zu spielen: zum Beispiel durch die Verwendung unterschiedlicher Papiere, durch Perforationen, Prägungen oder andere, stimmig eingesetzte Druckveredelungen. So wurde der Umschlag der Cortissimo 10 mit zwei unterschiedlichen Lacken partiell veredelt: Strukturlack mit sandig-rauer und UV-Spot-Glanzlack mit glänzender Oberfläche, die die Haptik des Titelmotivs spürbar nachahmen. Doch noch viel plakativere Veredelungen sind möglich: Glitterlack mit metallisch glitzernden Metallpartikeln, Beflockung mit textil anmutender, samtartiger Oberfläche, sogar Duftlacke, deren Wirkung sich durch Reiben entfaltet. Und auch, wie auf dem Umschlag der Cortissimo 9 eingesetzt, Nachtleuchtfarbe, die das Licht speichert und es im Dunkeln wieder abgibt.
Wir spüren, was wir sehen
Doch das Spiel mit der Haptik von Printprodukten erschöpft sich keineswegs in der passenden Wahl von Papier und Veredelung. Wie raffiniert man auch in der zweidimensionalen Fläche eines Printprodukts die haptischen Eigenschaften von Objekten wachrufen kann, zeigt der weltbekannte deutsche Grafiker Christoph Niemann: Seine 861.000 Instagram-Follower sind begeistert von Niemanns humorvollen Arbeiten, in denen er gekonnt und pointiert Zeichnung und Objekte zu kleinen Bildgeschichten kombiniert: Ein aufgeklebtes Post-it wird durch das Hinzufügen einer Zeichnung zum Fußabtreter, unter den der Dreck gekehrt wird; eine Mandarine wird zum Bauch eines vollgefutterten Mannes, der Borstenfächer eines hart aufs Papier gedrückten Pinsels zum Kleid. Als Betrachter spürt man die Haptik der Alltagsobjekte und wird von der erzählerischen Kraft der mehrdimensionalen Bildgeschichten unmittelbar in den Bann gezogen. Ähnliches schafft auch die Berliner Designerin Sarah Illenberger: Sie formt zum Beispiel einen Apfel aus Haaren und verwirrt unsere Sinne mit der Irritation, die die Veränderung der vertrauten Oberfläche in uns auslöst. Solche positiven Erfahrungen spielerischer Irritation sind natürlich nicht allein der Kunst vorbehalten — und wie man an der grafischen Gestaltung dieser Seiten erkennt, nicht einmal dem „richtigen Anfassen“. Denn müssen wir berühren, um berührt zu werden? Keineswegs: Auf YouTube erzielen sogenannte ASMRVideos Klickrekorde. Kurze Filme, in denen Menschen mit ruhiger Stimme sprechen oder sanft flüstern und die bei einer Vielzahl von Betrachtern einen „autonomous sensory meridian response“ auslöst: minutenlange wohlige Schauer, ein Kribbeln auf der Haut. Kann ein gedrucktes Kundenmagazin dasselbe leisten? Vermutlich löst es keine Gänsehaut aus (es sei denn, es ist fürchterlich gestaltet — auch das kommt vor), aber es wirkt in jedem Fall mehrdimensionaler und nachhaltiger auf uns als eine Webseite auf dem Handy oder ein PDF auf dem Desktop-Monitor. Das liegt nicht an der mangelnden Qualität der Webseite oder des PDFs, sondern ganz einfach daran, dass wir als Menschen dazu gemacht sind, die Welt mit allen Sinnen zu begreifen — und an den spürbaren Qualitäten von Print.